Im Zeichen der Jakobsmuschel
Seit dem Mittelalter pilgern Menschen nach Santiago de Compostela. Die spanische Pilgerroute ist berühmt und wird immer beliebter. Was kaum bekannt ist: Ein Jakobsweg führt auch durch Bremen.

Der Aufkleber auf dem Pfahl der Straßenlaterne an der Wilhelm-Kaisen-Brücke ist schon etwas zerkratzt und schmutzig. Das unverkennbare Symbol der gelben Jakobsmuschel wirkt fehl am Platze zwischen Werbestickern und Gekritzel. Doch ein Fehler ist ausgeschlossen: Einige Meter weiter gibt es wieder einen Aufkleber. Dieses Mal in Begleitung eines runden, blauen Stickers mit einem gelben Pfeil.
Die Markierungen des Jakobswegs in der Innenstadt sind leicht zu übersehen. Für die Eingeweihten weisen die Zeichen den kürzesten Weg nach Santiago de Compostela in Spanien – dem Pilgerort, an dem sich nach verbreiteter Meinung das Grab des Apostels Jakobus des Älteren befindet. Wie jedoch kamen die Zeichen an Laternenpfähle und Brückengeländer in Bremen? Die Kirche war es jedenfalls nicht.
Pastor Henner Flügger von der St.-Petri-Domgemeinde bietet regelmäßig Gruppen-Pilgerreisen nach Santiago de Compostela an. Die gelbe Muschel auf dunkelblauem Grund sei die offizielle Wegmarkierung der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft, erklärt er. Was es jedoch mit dem runden Aufkleber auf sich hat, kann er nicht sagen.
Aufschluss gibt eine Internetadresse, ganz klein am Rand des Stickers. Dahinter verbirgt sich ein Blog, das Internettagebuch des Bremers Martin Gottschewski. Dort dokumentiert er seine zahlreichen Pilgerreisen. Seit einigen Jahren ist der 53-Jährige für die Ausschilderung der Jakobswege im Großraum Bremen zuständig. Die sogenannte Via Baltica ist einer der Hauptwege der Jakobspilger in Norddeutschland und führt von Usedom an der polnischen Grenze bis nach Bremen. Dort verläuft der Weg durch den Bürgerpark, bis zum Dom und weiter am Ufer des Werdersees hinaus aus der Stadt bis Osnabrück.

Die Wegmarkierung werde organisiert durch Ehrenamtliche des Freundeskreises der Jakobswege in Norddeutschland, erklärt Gottschewski. Gemeinsam mit einer Kollegin geht er als Wegwart mindestens zweimal im Jahr die Strecke von Horstedt über Bremen bis Wildeshausen ab. Er prüft dabei vor allem, ob noch genügend Hinweise vorhanden sind. Die Aufkleber fallen oft Säuberungsaktionen der Stadt zum Opfer, und hochwertige Schilder würden oft verschwinden, sagt Gottschewski. Sein Ziel: Pilger sollen den Jakobsweg ganz ohne Reiseführer oder GPS finden können.
Das Kleben der Schilder ist eine kleine Wissenschaft für sich. „Im Idealfall zeigt die Muschel den Weg“, erklärt der Wegwart. Seine Interpretation ist folgende: „Die Linien der Jakobsmuschel laufen in einem Punkt zusammen, so wie die Jakobswege in Santiago.“ Also müsse der Knotenpunkt der Muschel in die Richtung weisen, in die der Pilger gehen soll. Da die Sticker aber oft so geklebt würden, dass der Schriftzug „Pilgerweg“ zu lesen sei, habe er sich zusätzlich das mit den gelben Pfeilen überlegt, sagt Gottschewski.
In den 1970er Jahren kam ein spanischer Pastor zum ersten Mal auf die Idee, den Jakobsweg mit gelben Pfeilen auszuschildern. „Im Mittelalter war der Jakobsweg überhaupt nicht ausgeschildert“, weiß Martin Gottschewski. Damals folgten die Pilger den Handelsrouten. Heute findet man vor allem in Spanien überall die gelben Pfeile, oft einfach mit Farbe auf Wände oder Bäume gemalt. Seine eigenen runden Aufkleber hat Gottschewski nicht nur in Deutschland, sondern auch schon in Spanien und Frankreich verteilt. „Immer dann, wenn der Weg nicht genügend ausgeschildert ist, greife ich in die Brusttasche und löse das Problem.“ Das Praktische: Die Internetadresse führt nicht nur Journalisten, sondern auch Pilger auf den Weg zu ihm. Über Interesse freut sich der 53-Jährige: „Viele denken immer noch, zum Jakobspilgern müsste man nach Spanien gehen.“
Im Jahr 1987 rief der Europarat dazu auf, die historischen Pilgerrouten wieder zu beleben. Vor allem in den vergangenen zehn Jahren wurden sie immer beliebter. Die Entwicklung in Deutschland wurde dabei durch das Buch des Entertainers Hape Kerkeling „Ich bin dann mal weg“ befeuert. Die Beschreibung seiner Pilgerreise auf dem Camino Francés, dem bekanntesten der fünf Jakobswege in Spanien, wurde ein Bestseller und löste einen richtigen „Hype“ aus, sagt Pastor Henner Flügger. „Das Buch hat offensichtlich eine Sehnsucht in den Leuten wachgerufen.“

Im Mittelalter sei Bremen ein wichtiger Pilgerort gewesen, erklärt Flügger. Hier lagen die Reliquien der Arzt-Heiligen Cosmas und Damian in einem goldenen Schrein, der heute der Münchener Michaelskirche gehört. Zudem war Bremen ein Importhafen für Bordeaux-Wein, weshalb eine gute Seeverbindung nach Frankreich bestand, die Pilger nutzen konnten. Doch auch heute kommen regelmäßig Pilger auf der Via Baltica durch die Stadt. Oft bitten sie bei der Domgemeinde um Unterkunft und einen Stempel in ihrem Pilgerausweis. Einen solchen Credencial del Peregrino braucht jeder Pilger, um seinen Weg dokumentieren zu können und am Ende eine Pilgerurkunde zu erhalten.
Henner Flügger schätzt die Zahl der Pilger, die am Bremer Dom ankommen, auf 1000 im Jahr. Da es in der Stadt keine zentrale Pilgerherberge gebe, sei es nicht möglich, genau den Überblick zu behalten. Gruppen können in einer Gästewohnung am Dom übernachten. Einzelpersonen kommen oft in Hotels, Jugendherbergen oder bei Privatpersonen unter. Der Freundeskreis der Jakobswege in Norddeutschland vermittele diesbezüglich Kontakte, sagt Martin Gottschewski. Außerdem biete ein Ehepaar in Lilienthal eine Art private Pilgerherberge an.
Die Jakobspilger organisieren und helfen sich meist selbst. Wegwart Gottschewski begleitet manchmal Pilger auf dem Weg durch Bremen oder nimmt sie bei sich auf. Er und seine Frau halten zudem Vorträge für Interessierte. Damit es in Zukunft mehr Menschen wie sie gibt, bildet Pastor Flügger gerade 14 Personen zu Pilgerbegleitern aus. Zudem organisiert er eine „Pilgerklause“, einen Stammtisch, der immer zu Beginn und zum Ende der Pilgersaison im Lighthouse stattfindet. Gerade nach der Rückkehr gebe es bei Pilgern ein tiefes Bedürfnis, sich auszutauschen, sagt Flügger.
Nicht alle Pilger pilgern aus religiösen Gründen – jedenfalls nicht im Sinne von „kirchlich“: „Religion kommt von dem lateinischen Wort religio, was Rückbindung bedeutet“, so Flügger. Die meisten Pilger würden sich auf etwas besinnen. „Viele pilgern, weil sie das Gefühl haben, dass sich etwas in ihrem Leben ändern muss.“ Es sei eine Suche nach neuen Zielen, aber auch oft ein Abschied von Verstorbenen, von Beziehungen, von Lebensträumen. „Manche können klar sagen, weshalb sie sich auf den Weg machen. Und mancher merkt erst unterwegs, dass er eine Frage mit im Gepäck hat, von der er gar nicht wusste.“ Für den Pastor ist das Pilgern ein guter Weg, zu sich selbst zu finden. Es seien die Begegnungen auf dem Weg und die Natur, die den besonderen Reiz für ihn ausmachten. „Man ist ganz im Moment. Man plant nicht den übernächsten Schritt, sondern hat viel Zeit.“
Martin Gottschewski sagt von sich selbst, er sei nicht religiös unterwegs. Er sehe das Pilgern vielmehr als ungeahnte Chance für Freundschaften, über Grenzen hinweg. Seit zwölf Jahren wandert er auf dem Jakobsweg, oft gemeinsam mit seiner Frau. Sie war es auch, die ihn für das Pilgern begeisterte, als die beiden sich kennen lernten. „Ich sagte, das interessiert mich nicht, mit Rucksack zu laufen und nicht zu wissen, wo eine Toilette und mein Bett sind“, erinnert sich der 53-Jährige. Doch was tue man nicht alles, wenn man frisch verliebt ist. Das erste Mal habe ihm keinen Spaß gemacht, aber er führe Dinge gern zu Ende. Nach weiteren Reisen folgte 2013 der große Schritt: Martin Gottschewski und seine Frau nahmen sich sieben Monate Auszeit, verkauften ihre Wohnung und pilgerten von Bremen bis an die Nordwestküste Spaniens. Und zwar auf die ursprüngliche Weise, so wie im Mittelalter: Direkt von der Haustür bis zur Kathedrale in Santiago de Compostela.
Eine Alternative: Der Mönchsweg. Der Jakobsweg ist nicht der einzige Pilgerweg im Bremer Umland: Ein langer Fahrradpilgerweg, genannt Mönchsweg, führt vom St. Petri Dom in Bremen bis Puttgarden an der dänischen Grenze und weiter bis Roskilde. Die Route zeichnet die Ausbreitung des christlichen Glaubens nach.
Quelle: dieser Artikel von Alice Echtermann
wurde veröffentlicht im WESER-KURIER am 24.09.2016